Bericht von IM Frank Zeller
Das war eine große Tat: Halls Erste schlägt den amtierenden Meister Solingen in einem Krimi mit dem sehr engen Resultat von 4,5:3,5. Für die Spannung in der Meisterschaft ist das vielleicht nicht unbedingt förderlich – Baden-Baden profitiert vom Ausrutscher des Konkurrenten und ist kaum mehr einzuholen – , aber für Schwäbisch Hall ist dies ein weiterer wichtiger Meilenstein in der Erfolgsgeschichte der letzten Jahre, begonnen mit dem Durchmarsch von der Verbandsliga bis zur höchsten Spielklasse im Deutschen Schach.
Meißens Silhouette ist geprägt von der Elbe und der herrschaftlichen Albrechtsburg, Dom inklusive.
Es ist angerichtet: der ausgezeichnete Turniersaal der Ausrichter im Obergeschoss des Firmensitzes vom Dresdner Hauptsponsor UKA kurz vor dem Anpfiff.
Es ist vollbracht! Nach 7 Stunden aufreibender Arbeit konnte Team Hall die Korken knallen lassen. Da war der „Matchwinner“ Tigran G. allerdings bereits mit Teamchef Harry B. unterwegs zum Flughafen…
Solingen, fürwahr ein harter Brocken, war noch extra durch seine nominelle Nummer Eins, Anish Giri, verstärkt. Offenkundig nahm man den Spieltag in Meißen gegen die gefährlichen Gegner Dresden und Schwäbisch Hall sehr ernst – zu Recht, wie sich zeigen sollte! Im Schnitt war Hall rund 100 Elopunkte schwächer besetzt als der Meister, vor allem an den hinteren Brettern, an dem Hall mit zwei „echten“ Schwaben, mit Mathias und mir, antrat, nahm die Differenz bedrohliche Formen mit bis zu 200 Punkte an! Eine Marschroute gab es deshalb auch nicht wirklich, wir konnten einfach befreit aufspielen und unser bestes geben. Die Eröffnungsphase entwickelte sich aber schon sehr zufriedenstellend für Hall, abgesehen von den Brettern 1 und 8, an denen sich schnell eine Verschärfung der Lage abzeichnete.
Gleich zum Spitzenbrett:
Giri setzte unseren Mann nicht zuletzt durch sein gewohnt schnelles Spiel unter Druck, während Ernesto schon VOR dem ersten Zug viel Zeit investierte.
Bereits ausgangs der Eröffnungsphase war klar, dass ein scharfes Gefecht zu erwarten war:
Inarkiew – Giri (nach 12. …Df6-e7) Viele Ungleichgewichte stechen hervor: Weiß reklamiert Raumvorteil und Entwicklungsvorsprung für sich, Schwarz indes besitzt das Läuferpaar – und Aussichten, scharf gegen den mittig auf e2 stehenden weißen König vorzugehen!
Die Spitzenbretter, an denen die wichtigsten Entscheidungen fallen sollten: vorne Ernesto gegen Giri, hinten links Viktor, neben ihm Tigran, der den einzigen Sieg des Tages landen sollte.
Und das tat der Favorit dann auch: unter Bauernopfern öffnete er die Zugstraßen, es sah ziemlich prekär für Ernesto aus, dazu gesellte sich eine immer verschärftere Zeitnot beim Weißen:
Nach 23. …e4!?
23.Sd4!? Lc7!? Verstärkt den Druck. Schwarz kann die Qualität auf d1 nehmen, aber das würde dem schwarzen Angriff (Läuferpaar!) an Schwung nehmen, Weiß könnte sich konsolidieren und besäße mit zwei Bauern für die Qualität materiell keinen Nachteil.
24.Lxe4!? erschien aber reichlich riskant, weil nun wirklich die e- und die f-Linie komplett geöffnet werden und viele Figuren voneinander abhängig im Schlagbereich stehen.
24. …Lxf4 25.Sf5! Die Pointe von Ernestos offensiver Verteidigung:
25. …Txe4!? 26.Dxe4 Lg5!? Um es maximal zu komplizieren. Schwarz konnte auf d1 und f5 schlagen, was auf den ersten Blick nach einer glatten Mehrfigur für Schwarz aussieht. Doch am Ende hat Weiß b4-b5! woraufhin der Sc6 nicht ziehen darf wegen Se7+ mit Springergabel und Turmgewinn. Diesen Rettungsanker musste Ernesto bereits bei seinem 23. Zug auswerfen.
28.b5! Lg6!?
Eher inkorrekt und nun ein wirkliches Opfer, aber eben eine praktische Entscheidung, auf die Zeit des Gegners spekulierend.
29.Sde3! Lxe3 30.Dxe3 Lxf5 31.bxc6 Lxh3+ 32.Kg1 Lg4 33.Td3 bxc6 34.Te1 Kh7
Hier bot Giri remis an. Ein geschickter Schachzug, denn eigentlich hat er für die Qualität keine ausreichende Kompensation. Doch die weiße Königsstellung ist offen, zudem blieben Ernesto seit geraumer Zeit nur die 30 Sekunden Inkrement für jeden Zug. Und so konnte er das Angebot kaum ablehnen… Remis.
Anish und Ernesto gehen im Geiste nochmal ihre Partie durch
Ein bisschen Schlachtenglück gehört eben dazu. Hall besaß dieses insofern, als Solingens Nummer drei, Robin Van Kampen, offenbar mit dem falschen Fuß aufgestanden war. Zunächst holte er mit den weißen Steinen gar nichts aus der Eröffnung:
Van Kampen – Gharamian (nach 13. …Db6-a6)
14.a4? Ein grober Schnitzer, wonach die Fesselung auf der Diagonalen a6-f1 dem Weißen eine Qualität kosten wird. Der Holländer musste mit 14.Lf1 oder Te1 seine Dame decken, auch 14.Sfd2 machte Sinn. Nun aber, nach 14. …Sa5 15.Sfd2 Le6 16.Lf1 Lxc4! 17.Sxc4 Sb3 war die Partie vorschnell entschieden, Tigran G. ließ sich nicht mehr die Butter vom Brot nehmen und gewann locker.
Hier ahnte der skeptisch dreinschauende Tigran noch nicht, dass er wenige Züge später bereits die Qualität gewinnen und für die Vorentscheidung sorgen würde.
Frühe Führung für sein Team, die Sensation liegt in der Luft … Teamchef Harry Barg gibt sich betont locker
An den Brettern 5 und 6 zeichneten sich schon frühzeitig Remisschlüsse ohne große Aufreger ab. Mehr Spannung war da schon in meiner eigenen Partie auf dem Brett, wo mein Gegner Alexander Naumann mir eine prinzipielle Variante mit zwischenzeitlichem Figurenopfer abverlangte:
Naumann – Zeller (nach 8.Lb3)
8. …Sxd4!? 9.hxg4 Sxb3!? 10.axb3 hxg4 11.Sg5 Dd7 12.Dd3 c6
Schwarz kann den Springer auf g5 wieder „abholen“, doch sofortiges …f6 würde 13.Dd5! erlauben, weshalb noch gewisse Prophylaxe nötig ist. Die wiederum schwächt den Damenflügel.
13.c4! b4! 14.c5! f6 15.Td1 fxg5 16.Le3!?
Diese skurrile Position zog etliche Blicke auf sich, ungläubig beäugten die Kiebitze den schwarzen Tripelbauern auf der g-Linie. Ich hatte diese hochkomplizierte Variante in den letzten Jahren bereits des öfteren angeschaut, aber nie aufs Brett bekommen! Alle paar Monaten bemühe ich mich, die Erinnerung aufzufrischen bzw. nachzuschauen, ob es neue Partien gibt – doch mit den Erinnerungen ist es so eine Sache… und neue Partien gibt es höchstens mal eine pro Jahr, weil offenbar Weiße wie Schwarze das Chaos meiden. Immerhin hat man hier auch die Chance, einen gestandenen Großmeister aufs Glatteis zu führen. Bislang zogen wir beide sehr flott, aber nun nahm ich mir eine längere Auszeit, da mir Naumanns 16.Le3 eine Neuerung zu sein schien – allerdings hatte ich auch an alles andere nur vage Erinnerungen. Am Vorabend frischte ich nur noch mein 1.d4-Repertoire auf! Nach 35 Minuten entschied ich mich für 16. …Td8, wohl eine gute Wahl.
Mein 16. …Td8 steht auf dem Brett. Momentan habe ich zwei Bauern mehr, doch alle Bauern hängen schlapp in der Gegend rum, entwickelt ist kaum was – allerdings droht immer mal ein flottes Matt über die h-Linie!
In den nächsten drei, vier Zügen investierten wir beide enorm viel Zeit, es war sicher auch die komplizierteste Phase in der Partie. Vertraut man den Rechnern, fand ich mich besser zurecht als mein Gegner, der offenbar von 17.cxd6 g3! überrascht wurde und nach 18.Txa6!? Lxd6 19.f3?! verdächtig auf Grundlinienmatt stand:
Ich nahm mir hier wieder Zeit, weil ich spürte, dass was gehen könnte. Ideen wie …Dd7-e6-h6 oder …f7-h5 unterstützt mit …Se7-g6-f4 oder …Sf6-h5-f4 lagen in der Luft. Die Kiebitze witterten den „Schlag“ 19. …Lc5 20.Dxd7+ Txd7, übersahen aber 21.Ta8+ mit weißem Gewinn.
Richtig fündig wurde ich aber nicht und zog schließlich 19. …g4. Doch mit 20.Ta7! De6 21.Dc4 konnte Naumann den Damentausch erzwingen und die Mattgefahr so ziemlich aus der Stellung nehmen. Im Weiteren nivellierte sich unter dem Einfluss beiderseitiger Zeitnot die Schärfe, das Gleichgewicht wurde nicht mehr gestört und schließlich beendete eine Zugwiederholung die Partie.
Hinterher eröffnete der Blick auf die in großer Tiefe laufenden Rechenprogramme, dass Schwarz hier einen Zug hatte, der ihm merkbaren Vorteil bot: 19. …Dc8! hält Stockfish gar für einen „forcierten Gewinn“. Andere Programme sind da vorsichtiger, befürworten indes auch …Dc8. Das Problem dabei: wer würde 19. …Dc8 in Betracht ziehen, wo die Dame doch zum Königsflügel will? Der Zug ist unlogisch und kontraintuitiv, außerdem erschließt sich die weitere Zugfolge nicht. Es lässt sich nicht fassen, warum …Dc8 so wirkungsvoll sein soll. Wir spielten dagegen menschliches Schach und es ergab sich ein logisches Remis.
Ein Remis, das Team Hall näher an den Gesamtsieg brachte. Zwei Endspiele waren noch am Laufen, in beiden kämpfte Hall ums Remis. Diesem am nächsten war Mathias Womacka, der in seiner sächsischen Heimat immer recht erfolgreich spielt und um seine Fans im Publikum weiß. Gegen den früheren Weltklassemann Pedrag Nikolic verteidigte er minimal schlechteres Turmendspiel.
Währenddessen wurde draußen im Foyer heftig analysiert: die versammelte Elitetruppe Solingens hatte auf den Stehtischen die noch laufenden Endspiele aufgebaut, Wortführer waren – wie auch nicht anders zu erwarten – Giri und Harikrishna. Zunächst stand Mathias` Endspiel im Mittelpunkt des Interesses, doch dann stießen die Ausnahmespieler auf die aktive weiße Idee b3:
Hier schwante den Solinger Spielern das Unheil: „was, wenn Weiß b3! spielen würde?“ Von links Erwin L`Ami, Pentala Harikrishna, Borki Predojevic, Robin Van Kampen, Anish Giri + der Mülheimer Konstantin Landa.
Womacka – Nikolic (nach 44. …Th8)
Und was spielte Mathias? Natürlich 45.b3!
Schwarz muss nun die Auflösung des Damenflügels zulassen oder, so kam es in der Partie, die Bildung eines gedeckten Freibauern auf d4. Danach konnte der Haller getrost den Turmtausch anstreben, da er das Bauernendspiel somit eigentlich nicht mehr verlieren konnte.
Hier konnte Mathias mit seinem gedeckten Freibauern bereits entspannt in die Zukunft blicken.
Damit war unser Mann aus der Gefahrenzone. Draußen im Foyer verloren die Solinger das Interesse am Turmendspiel. Nikolic versuchte noch dies und das, stellte aber bald seine Bemühungen ein.
Solingens Hoffnung ruhten nun auf Markus Ragger: die österreichische Nummer Eins hatte Viktor Laznicka einen Bauern abgeluchst:
Laznicka – Ragger (nach 55.Tc4)
Reicht der Mehrbauer zum Gewinn? Das Material ist stark reduziert, der Springer f3 deckt zuverlässig die beiden weißen Bauern. Ragger lavierte nun ewig hin- und her, bevor er was unternahm und endlich wieder einen Bauern zog, während bei Viktor die Restbedenkzeit immer knapper wurde. Am Horizont war das Gespenst eines Endspieles Turm + Läufer gegen Turm schemenhaft zu erkennen. Die Partie ging in die siebte Stunde, die Zugzahl kletterte ins Dreistellige, ein Ende war nicht in Sicht!
Ragger (l) und Viktor L., im Hintergrund die Haller Edelkiebitze Wilhelm B. und Walter S. zwischen Interesse und Ermattung.
Zwischen Hoffen und Bangen: angespannt beobachtet Solingens Teamchef Herbert Scheidt das Geschehen.
Im 98. Zug machte Ragger endlich einen Bauernzug: …g5. Er konnte in der Folge den g-Bauern für den weißen e-Bauern eintauschen. Ein Fortschritt: er besaß nun einen gedeckten Freibauern. Die Solinger Aktien stiegen wieder, zumal Viktor nur noch von seinem Inkrement lebte, mehrfach bis auf 2,3 Sekunden `runter war und nun doch Anzeichen von Nervosität zeigte.
Doch unser kleiner Prager ist bekannt für sein gutes Nervenkostüm sowie seine Blitzschachkünste. Irgendwie fand er immer doch noch den richtigen Weg:
Nach 116. …e5
Ein kritischer Moment: der e-Bauer droht weiter vorzudringen, 117.Sxe5? verbietet sich wegen …Tc3+! Aber Viktor blieb cool:
117.Sd2! Um auf das ideale Blockadefeld e4 zu gelangen. Die Fesselung des Läufers zwingt den Schwarzen nun, ins Turmendspiel über zu gehen mit 117. …Td4 118.Txc7 Txd2, aber Turmendspiel sind nun mal häufig remis, und so auch hier. Bald erreichte der Haller Philidors Remisstellung und der frustrierte Ragger willigte ins Remis ein.
Die Schlussstellung auf dem Brett, der Matchsieg unter Dach und Fach nach 126 Zügen!
Meißen erwies sich wieder als gutes Pflaster für Hall. Wir freuen uns auf ein Wiedersehen in der nächsten Saison!